Memories of Overdevelopment1

Memories of Overdevelopment
Philippinen 1984, 33 min, Farbe

„The never-ending film-in-progress by Filipino artist Kidlat Tahimik“ lautet der knappe Eintrag in der Internet Movie Data Base über diesen Film. Und in der Tat, im gängigen Sinn zu Ende geführt wurde dieser Film bis heute nicht. Anfang der 80er Jahre drehte Tahimik diese Filmskizze, um einen Geldgeber für einen Langfilm über den Sklaven des portugiesischen Seefahrers und Entdeckers Ferdinand Magellan zu finden. Es fand sich kein Finanzier, und so blieb Memories of Overdevelopment mehr als 30 Jahre unvollendet. Erst 2015 kombinierte Tahimik dieses Fragment mit neu gedrehtem Material zu dem Film Balikbayan#1 Memories of Overdevelopment Redux III. Im Titel erklingt eine Anspielung auf Tomas Gutiérrez Aleas kubanischen Klassiker Memorias del subdesarrollo (Memories of Underdevelopment) von 1968 - jedoch hat Tahimiks Gegen-Geschichte wenig gemein mit den Manifestos des Dritten Kinos.

Auch in seiner unvollendeten Form wurde Memories of Overdevelopment gelegentlich in Tahimik-Retrospektiven gezeigt und er kann auch durchaus für sich bestehen. Zwar fehlen viele der geplanten Sequenzen und das gedrehte Material wird durch einen Voice-Over des Regisseurs zusammengehalten, der die einzelnen Szenen verbindet und ihre Bedeutung im Gesamtfilm erklärt. Doch das gut halbstündige Fragment macht die originelle Prämisse des Films hinreichend klar: Für Tahimik war Magellans Sklave ein Filipino und der erste Mensch, dem gelang, wozu Magellan am Ende einige hundert Seemeilen fehlten: einmal den gesamten Globus zu umfahren.

Dabei stützt sich Tahimik auf zeitgenössische Aufzeichnungen, denen zufolge Magellan bei seinem ersten Aufenthalt auf den „Gewürzinseln“ im malayischen Archipel in Malakka einen Sklaven als Übersetzer gekauft und ihn „Enrique de Malacca“ getauft haben soll. Mit ihm kehrte er über den Weg um das Horn von Afrika – zu dieser Zeit die einzige bekannte Route von Asien nach Europa – zurück in seine Heimat. Mit Unterstützung der spanischen Krone stach er 1519 wieder in See, um Richtung Westen einen Weg nach Asien zu finden. Auch bei dieser Expedition begleitete ihn Enrique als Übersetzer. Magellan wurde 1521 von Häuptling Lapu-Lapu ermordet. In seinem Testament gab er Enrique die Freiheit, weitere Informationen über dessen weiteren Lebensweg gibt es nicht.

In einem Bericht über Magellans Reisen des italienischen Historikers Antonio Pigafetta heißt es, dass „Henrique“ aus Sumatra stammte. Aus anderen Berichten über die Expedition, in denen es heißt, dass Enrique in Cebu mit den Einheimischen kommunizieren konnte, schließt Tahimik jedoch, dass Enrique ursprünglich von dort gewesen sein muss und entweder als Migrant oder als Sklave nach Malakka gekommen war, wo Magellan ihn kaufte. Diese Vermutung wird auch von anderen Historikern geteilt, allerdings ist es auch möglich, dass sich Enrique und die Cebuaner in Malay verständigten. Die Theorie, dass Enrique wieder an den Ort seiner Geburt gekommen war und so als erster Mensch den Globus umrundet haben soll, ist daher weder bewiesen, noch widerlegt.

Kidlat Tahimik nutzt die historischen Vermutungen, um aus ihnen eine Fabel zu entwickeln, in der dem subalternen Sklaven gelingt, was seinem Herren, dem Kolonisator Magellan, nicht gelang. So verkehrt er kolonialistische und eurozentrische Narrative über die Überlegenheit des Westens ins Gegenteil und erlaubt eine Revision der Geschichte der „Entdeckung“ der Philippinen durch europäische Abenteurer-Helden wie Magellan, den er in dem Film allerdings nie denunziert oder dämonisiert. Enrique de Malacca nimmt sein Schicksal nicht als grausames historisches Unrecht, sondern pragmatisch als Lebensphase, die schließlich zu einem für ihn positiven Ende kommt: Zuletzt ist er wieder in seiner Heimat angekommen und verschwindet aus der westlichen Geschichtsschreibung.

Das auf 16 Millimeter-Material gedrehte Original von Memories of Overdevelopment wurde bei einem Brand zerstört. Heute existiert nur noch eine DVD-Version. Sie zeigt, mit welchem Geschick Tahimik praktisch ohne Budget die historische Epoche evoziert, in der der Film spielt. Wie in Perfumed Nightmare und Who invented the Yoyo? Who invented the Moon Buggy? nutzt er Originalschauplätze und selbstgemachte oder klug ausgewählte Requisiten, um eine Geschichte zu erzählen, die er sich eigentlich gar nicht leisten kann. Diese Strategie der Aneignung macht Tahimik zu einem filmischen Bricoleur, der Vorgefundenes in seinem eigenen Sinn umwidmet und neu interpretiert.

Regie: Kidlat Tahimik